Du hast viel Zeit und Aufwand in Medical Training investiert. Statt entspannt ausreiten zu gehen, bist du zu Hause geblieben und hast fleißig mit deinem Pferd geübt, sich am Auge anfassen zu lassen. Du bist stolz, dass dein Pferd sich problemlos dort anfassen lässt und den Kopf auch bei Manipulation an den Lidern nicht wegzieht. Dann kommt der Tag, an dem dein Pferd sich auf der Koppel einen bösen Tritt einfängt. Rund ums Auge hat dein Pferd eine riesige Schwellung – vom Auge selbst ist kaum noch etwas zu sehen. Der Tierarzt ist da, möchte untersuchen, dein Pferd zieht den Kopf weg und das gute Benehmen ist vollständig dahin. Lässt dein Pferd dich nun also im Ernstfall doch im Stich? Hättest du dir das gesamte Medical Training vielleicht gleich sparen können?

Genau die beschriebene Situation habe ich vor einigen Jahren mit meinem Tali erlebt. An den mustergültigen Tierarzt-Streber war plötzlich am Auge kein Rankommen mehr. Natürlich kommt da kurz mal Frust auf und man hinterfragt das eigene Training. Dabei sind solche Situationen vollkommen normal und auch in Ordnung.

Was ist das Ziel des Medical Trainings?

Im Medical Training lernen unsere Pferde, Manipulationen an ihrem Körper sowie kleinere Schmerzreize entspannt zu tolerieren. Sie machen im Training die Erfahrung, dass es sich lohnt, ein gewisses Maß an unangenehmen Reizen zu Gunsten des erwünschten Verstärkers hinzunehmen. Bei gutem Trainingsaufbau wird dem Pferd stets ein Mitspracherecht eingeräumt wird. So finden Manipulationen nur statt, wenn das Pferd ein vorher festgelegtes Kooperationssignal zeigt. Das kann zum Beispiel das Berühren und Halten eines Targets sein. Löst sich das Pferd vom Target, unterbricht der Mensch die Manipulation sofort. Das Pferd kann die Situation also kontrollieren und jederzeit beenden. Dieser Kontrollaspekt gibt den Pferden Sicherheit und lässt das Stresslevel in gutem Medical Training sehr gering ausfallen.

Nun gibt es aber einen gravierenden Unterschied zwischen der Trainingssituation und dem realen Notfall am Auge. Während die normale Augenuntersuchung nur ein bisschen unangenehm ist, sind die Berührung und der Druck an der Schwellung massiv schmerzhaft. Die notwendige Diagnostik und Behandlung können für das Pferd eine echte Qual darstellen.

Hättest du also anders oder mehr trainieren müssen, um dein Pferd auch auf diese äußerst schmerzhafte Situation vorzubereiten?

Stell dir vor, du wärst dein Pferd…

Versetz dich doch einfach mal in die Lage deines Pferdes und stell dir vor, wie es dir mit den Corona-Schnelltests geht. Vermutlich findest du es nicht sonderlich spaßig, dir mit einem Stäbchen in Nase oder Rachen herumporkeln zu lassen. Trotzdem bist du wahrscheinlich bereit (zumindest ist es ein großer Teil von uns), dich testen zu lassen, um daraus Vorteile wie den Zutritt zum Restaurant oder den Flug in den Urlaub zu ziehen. Der Test ist zwar nicht angenehm, er ist aber auch nicht schrecklich schmerzhaft. Ob du nun für einen Friseurbesuch bereit bist, dich testen zu lassen, oder ob dabei schon mindestens ein zweiwöchiger Urlaub rausspringen muss, ist eine ganz individuelle Angelegenheit.

Nun denken wir uns eine andere Situation aus, in der ein deutlich schmerzhafterer Reiz gesetzt wird. Stell dir vor, du müsstest vor dem Restaurantbesuch keinen Coronatest mehr über dich ergehen lassen, sondern dir jedes Mal mit einem Messer in den Finger schneiden lassen. Würdest du immer noch ins Restaurant wollen? Wärst du bereit, den Schnitt für eine billige Pizza zu ertragen, oder müsste es dafür schon ein Fünf-Gänge-Menü sein?

Und was wäre, wenn man dir vor dem Zutritt zum Restaurant gleich jedes Mal einen Finger brechen würde? Vermutlich kommen wir spätestens hier in Bereiche, in denen du lieber ganz auf den Restaurantbesuch verzichtest, weil der Preis dafür einfach zu hoch ist. 
Wo genau die Schwelle zwischen akzeptablen und nicht mehr akzeptablen Schmerzreizen liegt, ist zwar individuell, es gibt aber Bereiche, die wohl jedem einigermaßen klar bei Verstand befindlichen Menschen zu schmerzhaft wären. Für keinen Preis der Welt wäre man bereit, diese Schmerzreize bewusst in Kauf zu nehmen.

Zurück zum Pferd

Unseren Pferden geht es ähnlich. Während Berührungen, Mauluntersuchungen oder der kleine Pieks zur Blutuntersuchung bei strukturiertem und gut durchdachtem Training für fast jeden Patienten realisierbar werden, gibt es auch hier Schmerzreize, die zu stark sind, um sie zugunsten einer erwünschten Belohnung zu tolerieren. Der Schmerz bei Belastung eines frischen Traumas am Auge dürfte wohl für die meisten Pferde dazu gehören, ganz egal wie gut unser vorheriges Training aufgebaut war. Bei den meisten Pferden hätte ein besseres Training also die konkrete Situation wohl nicht verändert – Ausnahmen bestätigen die Regel.

Also verzichtest du in Zukunft auf Medical Training…

…weil die Behandlung am Ende ohnehin zu unangenehm ist? Nein – auf keinen Fall! Trotz der Schmerzproblematik hast du mit gutem Medical Training ein wertvolles Tool in der Hand, um deinem Pferd Untersuchungen und Behandlungen zu erleichtern. Neben vielen weniger schmerzhaften Situationen, in denen du deinem Pferd zu mehr Entspannung und weniger Stress helfen kannst, hat dein Pferd auch in akuten Schmerzsituationen mit einer entsprechenden Trainingsgeschichte Vorteile.

So wäre es in unserem konkreten Beispiel auf Basis des Trainings möglich, ein Schmerzmittel intravenös oder oral am kooperativen Pferd einzugeben und somit die Situation zu entschärfen. Dem Pferd wird nach einer stressfreien Schmerzmediation eine schmerzärmere Behandlung ermöglicht. Bestenfalls hat es somit die Möglichkeit, erwünschtes Verhalten zu zeigen, welches vorher im schmerzfreien Zustand bzw. mit geringen Schmerzreizen trainiert wurde. Gleichzeitig bekommt der Behandler die Chance, an einem kooperativen Pferd zu arbeiten, so dass sich die Arbeitssicherheit erhöht und die Dauer der Behandlung im Rahmen bleibt. Spätestens wenn du im Anschluss an die akute Notfallversorgung einige Tage Augensalbe eingeben musst, werdet ihr beide, du und dein Pferd, von der guten Vorbereitung profitieren.

Und wenn es sich nicht vermeiden lässt?

Es gibt Situationen in denen es nicht vermeidbar ist, massivere schmerzhafte Reize zu setzen. Zum Beispiel weil der Schmerz trotz Medikation noch gravierend ist, oder weil andere medizinische Gegebenheiten ein schnelles Handeln erfordern. Vielleicht bist du auch einfach noch nicht weit genug im Training, um ein entspanntes Spritzen von Schmerzmitteln zu ermöglichen.

Um dir deine schon erreichten Trainingserfolge nicht zu ruinieren und das Vertrauen deines Pferdes in die Behandlungssituation nicht grundlegend zu erschüttern, solltest du die Situation deutlich von deiner sonstigen Trainingssituation unterscheidbar machen. Geh zum Beispiel an einen anderen Ort, gestalte Abläufe anders und lass nichts an die Trainingssituation erinnern. Tu in einem maximal veränderten Kontext das, was nicht vermeidbar ist. Versuche gemeinsam mit deinem Tierarzt, die Situation für dein Pferd so angenehm wie möglich zu gestalten – frag im Zweifel lieber nach einer Sedation, als deinem Pferd unnötig viel Stress zu bereiten. Warte anschließend ab, bis sich die akute Situation etwas beruhigt hat und ihr entspannt an euer Training in der gewohnten Situation anknüpfen könnt.